Chancen, aber auch Risiken
11.11.2025
Im Rahmen der Vernehmlassung hat sich der Bündner Gewerbeverband (BGV) mit den neuen Verträgen zwischen der Schweiz und der Europäischen Union (EU) auseinandergesetzt und dabei eine kritische Haltung eingenommen. Die Verträge bieten Chancen, bergen jedoch erhebliche Risiken. Besonders kritisch betrachten der Bündner Gewerbeverband den drohenden Regulierungsdruck infolge der dynamischen Rechtsübernahme. Wirksame flankierende Massnahmen sind meines Erachtens unabdingbar, um KMU (kleine und mittlere Unternehmen) und Gewerbe vor negativen Folgen zu schützen.
Als grösster Wirtschaftsverband Graubündens bekennt sich der BGV zu stabilen rechtlichen Rahmenbedingungen im Verhältnis zur EU. Die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen der Schweiz und der EU sind auch für die Bündner Wirtschaft von grosser Bedeutung. Die bilateralen Verträge der Vergangenheit hat der BGV stets unterstützt. Sie haben sich bewährt und – allen Unkenrufen zum Trotz – funktionieren weitgehend. Die neuen Abkommen dürfen jedoch nicht aufgrund «freundschaftlicher Beziehungen» beurteilt werden, sondern ausschliesslich nach ihrem konkreten Inhalt. Bei der Bewertung von Verträgen ist Sachlichkeit erforderlich, Chancen und Risiken sind nüchtern abzuwägen. Verträge dienen nicht der Freundschaft, sondern den Interessen der beteiligten Parteien.
Aufgrund der institutionellen Elemente und der dynamischen Rechtsübernahme weisen die neuen EU-Verträge fundamentale Unterschiede zu den bisherigen bilateralen Verträgen auf. Ich werde das Gefühl nicht los, dass wir die Katze im Sack kaufen. Nicht unbedingt wegen der EU-Verträge an sich – deren Umfang ist in der Tat enorm. Sondern vor allem, weil vieles bei der innenpolitischen Umsetzung unklar bleibt. Betrachtet man die zentralistischen Tendenzen, die stetig wachsende Zahl von Verwaltungsmitarbeitenden und die zunehmende Regulierungsdichte des Bundes, schrumpft mein Vertrauen in eine pragmatische und unbürokratische Umsetzung der neuen Verträge erheblich. Es ist zu erwarten, dass bei der dynamischen Rechtsübernahme in vielen Fällen noch ein «Swiss Finish» hinzugefügt wird.
Bisher hat der Bundesrat kein Interesse gezeigt, die zentralen Aspekte der Umsetzung konkret zu erläutern. Auf eine detaillierte Regulierungsfolgeabschätzung wurde verzichtet, nur allgemeine Studien zu den volkswirtschaftlichen Auswirkungen wurden veröffentlicht. Damit bleibt die Katze im Sack. Für Gewerbe und KMU ist die drohende Regulierungsflut das entscheidende Argument bei den Abstimmungen über die neuen EU-Verträge – ein Eindruck, den ich in Gesprächen mit unseren Mitgliedern zunehmend bestätigt bekomme.
Der BGV unterstützt die bisherigen Verträge zur Personenfreizügigkeit. Die grenznahen Regionen in Graubünden sind auf eine unbürokratische Personenfreizügigkeit mit dem angrenzenden Ausland, wie sie aktuell besteht, angewiesen. Kritisch sieht der BGV die Kosten der «Erweiterung der anspruchsberechtigten Gruppen». Diese zusätzlichen Kosten dürfen nicht zulasten der Unternehmen und der arbeitenden Bevölkerung gehen. Der BGV unterstützt die bisherige Haltung des Schweizerischen Gewerbeverbands (SGV) zur Weiterentwicklung der flankierenden Massnahmen im Lohnschutzbereich, um faire Wettbewerbsbedingungen sicherzustellen. Eine Erweiterung des Marktzugangs ist grundsätzlich zu begrüssen, muss jedoch auf einer fundierten Kosten-Nutzen-Analyse beruhen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass der EU-Binnenmarkt fragmentiert ist und die Marktzugangshürden zwischen den Ländern aktuell eher ausgebaut, als abgebaut werden.
Der BGV äussert erhebliche Bedenken gegenüber der dynamischen Rechtsübernahme. Diese stellt nach Einschätzung des BGV die grösste Gefahr der neuen EU-Verträge für
die KMU in der Schweiz dar, da sie zu einer erheblichen Zunahme der Regulierung führen dürfte. Dieses weitgehend neue Verfahren ist mit hohen Risiken verbunden, insbesondere für binnenwirtschaftlich orien-tierte KMU. Es droht nicht nur, das politische und rechtliche System der Schweiz zu verändern, sondern auch die unternehmerischen Rahmenbedingungen nachhaltig zu belasten. Statt der dynamischen Rechtsübernahme hätte der Bundesrat in allen Verträgen das Äquivalenzverfahren verankern sollen, das der schweizerischen Rechtstradition entspricht, da es eine eigenständige Umsetzung von EU-Recht vorsieht. Die dynamische Rechtsübernahme hingegen bedeutet die unmittelbare Geltung von EU-Recht in der Schweiz und führt zu einem erheblichen Regulierungsdruck. KMU und Gewerbe wären dadurch zusätzlichen Belastungen ausgesetzt. Insbesondere im Bereich der dynamischen Rechtsübernahme sind daher klare Grenzen und wirksame Schutzmechanismen erforderlich, um die Interessen der Schweizer Wirtschaft und namentlich der KMU langfristig zu sichern. Im Rahmen der Vernehmlassung hat der Bündner Gewerbeverband vier konkrete Massnahmen vorgeschlagen:
- Unabhängige Regulierungsprüfungsstelle: Einrichtung einer verwaltungsexternen Instanz, welche die Umsetzung von EU-Recht in der Schweiz kritisch prüft und die Arbeit der Schweizer Vertretung im Gemischten Ausschuss begleitet.
- Begrenzung des Bundespersonalwachstums: Um den Vollzug neuer EU-Vorschriften in der Schweiz nicht mit einem unverhältnismässigen Stellenaufbau zu belasten, ist das Wachstum der Bundeslohnsumme klar zu begrenzen.
- Gesetzliche Grundlage für die Schweizer Vertretung im gemischten Ausschuss: Die Schweizer Vertretung soll ein klares, gesetzlich verankertes Mandat erhalten. Zuständigkeiten, Auswahlverfahren, Berichterstattungspflichten und Entscheidungsprozesse sind verbindlich im nationalen Recht festzulegen. So wird sichergestellt, dass die Schweizer Interessen konsequent gewahrt bleiben.
- Verfassungsmässiger Vorrang des nationalen Rechts: Die Bundesverfassung ist dahingehend zu ergänzen, dass Schweizer Recht im Konfliktfall Vorrang vor EU-Recht hat, insbesondere wenn dieses im Rahmen der dynamischen Rechtsübernahme eingeführt wurde.
Der Kantonalvorstand des BGV hat entschieden, den neuen EU-Verträgen nur zustimmen zu können, sofern der Bundesrat wirksame Schutzmechanismen gegen die drohende Regulierungsflut aufgrund der dynamischen Rechtsübernahme einführt. Diese Schutzmechanismen sind im nationalen Recht verbindlich zu verankern, damit der BGV den neuen EU-Verträgen zustimmen kann. Die Katze im Sack werden wir nicht kaufen.

