Architektur zwischen Ursprung und Aufbruch

Die Engadinerin Marisa Feuerstein gestaltet nicht nur Räume, sondern auch Haltungen zu Material, Identität, Baukultur und Verantwortung. Für die Architektin, welche gerne im Bestand baut, ist ein Haus nie Dekoration. Es lebt aus seiner Funktion und aus der Geschichte, die es erzählt.

Architektur war einst eine Männerdomäne, geprägt von Autorität, Bauplänen und Reissbrett. Heute ist der Beruf vielschichtiger. Architektur heisst zuhören, zwischen Bauherren und Ausführenden vermitteln, gestalten im Spannungsfeld zwischen Alt und Neu, Technik und Ästhetik, Natur und Nutzung. Die 1967 geborene Engadinerin Marisa Feuerstein kennt diese Transformation aus eigener Erfahrung, als Frau, Planerin, Unternehmerin. «Jeder muss sich seinen Platz erarbeiten und es nicht als Nachteil empfinden, als Frau in einem männerdominierten Beruf und Umfeld zu arbeiten. Ich musste meine Fachkompetenz nie rechtfertigen, aber beweisen, vor allem im technischen Bereich.»

Sie leitet mit ihrer Architectura Feuerstein GmbH in Scuol ein Team mit zwei männlichen und zwei weiblichen Mitarbeitenden, in dem nicht Geschlecht, sondern Haltung zählt. Feuerstein ist überzeugt, dass Frauen anders bauen, Männer aber auch. «Gerade diese Vielfalt macht gute Architektur möglich», sagt sie. Sie selbst interessiert sich für Konzepte, Materialien, Nutzungen, Umsetzungen. Den Raum sieht Feurstein als Ganzes. «Er sollte immer funktional, sinnlich und langlebig sein.»

In die Welt hinaus und zurück
Aufgewachsen in Scuol, verschlug es Feuerstein zunächst in die Ferne: Architekturstudium an der ETH Zürich, Praktikum in Toronto, Austauschsemester an der Harvard University. «Die internationale Erfahrung war prägend, sprachlich, fachlich, menschlich», sagt sie. Nach dem Abschluss 1993 kehrte sie zurück ins Engadin, ins väterliche Büro. Zunächst für einen Winter, dann für ein Leben. «Ich wollte nicht nur zeichnen, sondern sehen, wie ein Haus am Ende funktioniert.» Seither hat sie ihre ganz eigene Architektursprache entwickelt, strukturiert, verwurzelt im Ort, geprägt von abstrakter Konzeptarbeit und konkreter Umsetzung. Projekte wie die Jugendherberge Scuol oder ihr Haus in S-charl, das Albergo (Bild), zeugen von ihrer Handschrift. Ebenso wie ihre Liebe zur Engadiner Bauweise. «Die Engadiner Häuser wurden mit heimischen Materialien erstellt. Alles, was die Natur hergab, wurde verarbeitet. Sie sind aus dem Boden gewachsen, stimmig, archaisch», sagt die Mutter einer Tochter.

Als ehemalige Präsidentin des HGV Unterengadin, ehemaliges Mitglied Kulturarchiv Unterengadin oder als ehemaliges Vorstandsmitglied der SIA-Graubünden setzt sich Feuerstein für einen zeitgemässen Umgang mit der Baukultur ein. Dabei spart sie nicht mit Kritik: «Denkmalpflege ist wichtig – aber es wird problematisch, wenn sie nur konserviert, ohne die heutige Nutzung zu berücksichtigen. Die Denkmalpflege hat viel dazu beigetragen, dass wir Sorge zu unserem kulturellen Erbe tragen. Deshalb sind die Engadiner Dörfer so schön. In vielen anderen Regionen ist die traditionelle Baukultur längst ver- schwunden.» Sie plädiert daher für eine behutsame Weiterentwicklung des Bestands mit Respekt vor Geschichte, aber auch mit dem Mut zur Veränderung. Ihre Arbeitsweise beruht auf sorgfältiger Analyse, gezielten Eingriffen und klaren Kontrasten zwischen Alt und Neu. Nicht romantisierend, sondern ehrlich. Nicht nostalgisch, sondern zukunftsgewandt. «Ein gutes Haus ist nie Dekoration. Es lebt aus seiner Funktion und aus der Geschichte, die es erzählt. Und es dient seinen Bewohnern als Ort, wo das Herz zu Hause ist.»

Zwölf Fragen an Architektin Marisa Feuerstein

Marisa Feuerstein, was hat Sie dazu bewogen, nach Ihrem Abschluss 1993 in das väterliche Architekturbüro in Scuol zurückzukehren und dort zu bleiben?
Die wirtschaftliche Lage war 1993 für Architekten sehr schwierig. Durch die Rezession in der Baubranche haben die meisten Kollegen nach dem Abschluss keine Arbeit gefunden. Nur ca. 10 % hatten eine Stelle in Aussicht. Mein Vater hatte viel Arbeit und konnte eine helfende Hand gebrauchen. Und ich dachte, nach den Studien- und Wanderjahren komme ich gerne nach Hause, um endlich etwas Geld zu verdienen, viel zu lernen, und ich habe mich auf einen Winter mit viel Snowboarden gefreut. Für mich war aber klar, dass ich danach wieder auf Wanderschaft gehe – am liebsten nach Kanada.

Inwiefern hat die damalige wirtschaftliche Lage nach Ihrem ETH-Abschluss Ihre berufliche Richtung beeinflusst?
Mein Vater hat es geschickt geschafft, mir die spannenden Projekte zu geben und mich somit noch ein Jahr und noch einen Winter und noch ein Jahr dabeizubehalten. Und ich habe das Engadin wieder lieben und schätzen gelernt und wollte plötzlich gar nicht mehr weg. Die Projekte und auch die Architektur waren weit weg von allem, was ich an der ETH gelernt hatte. Ich habe eine Zeit lang gehadert, dass mich das lange, intensive Studium so wenig auf den Alltag vorbereitet hat. Aber mit den Jahren konnte ich für mich eine sehr gute Mischung aus Architektur, Funktionalität und Praktikabilität erarbeiten und so meine ganz eigene Formensprache finden.

Was fasziniert Sie besonders am Engadiner Haus und an der lokalen Baukultur – etwa am Umgang mit Materialien wie Stein, Holz oder Sgraffito?
Die Engadiner Häuser sind wunderbar archaisch und scheinen wie aus dem Boden gewachsen. Sie wurden mit heimischen Materialien erstellt – alles, was die Natur hergab, wurde verarbeitet. Ich bin überzeugt, dass die Leute diese Häuser auch heute noch so lieben – sie sind einfach stimmig und ohne «Wenn und Aber» gebaut. Die Funktion wurde jeweils immer wieder angepasst, ohne zu fragen, ob dies nun modern oder passend ist. Gewachsene, traditionelle Architektur in einem starken Umfeld. Das Sgraffito war ein Import aus Italien – dem Auswanderungsland der Engadiner. Die Randulins – die Schwalben, wie wir die Auswanderer nennen – haben diese Verzierung im 15. Jh. von Florenz und Umgebung heimgebracht. Eine liebevolle Hommage an die verschiedenen Gottheiten, ambivalente Figuren und mit viel Symbolik behaftete Muster.

Ihre Architektur wirkt gleichzeitig zeitlos und traditionsverbunden. Wie gelingt es Ihnen, zwischen regionaler Identität und zeitgenössischem Anspruch zu vermitteln?
Wir sind keine Agrargesellschaft mehr, und die Engadiner Häuser waren reine Bauernhäuser. Natürlich gibt es auch die Palazzi usw. Der Spagat, aus diesen grossen Bauernhäusern ein modernes Habitat zu erstellen, ist nicht immer einfach. Wichtig ist es, die Bausubstanz, Geschichte und Entstehung dieser Häuser zu analysieren und zu verstehen und respektvoll damit umzugehen. Die Benutzung der heimischen Materialien ermöglicht eine Weiterführung der traditionellen Baukultur, wobei der Ausdruck oder Umgang sehr modern, minimalistisch sein kann. Am liebsten sollte Alt und Neu gut lesbar bleiben – Altes sorgfältig restaurieren und mit Neuem mutig ergänzen.

Sie sagen, ein Haus sei eine Symbiose aus äusseren Einflüssen und innerer Funktionalität. Haben Sie ein Beispiel für ein Projekt, bei dem Ihnen diese Verbindung besonders gut gelungen ist?
Unser Haus in S-charl, das Albergo, ist auch nach Jahren eines meiner Herzensprojekte. Gut ablesbar als ehemaliger Heustall, ist die grosse, dominante und hervorstehende Glasfront ein sehr moderner Einschub und zeigt, dass hier zeitgenössisch gelebt wird. Heute wäre dieser moderne Eingriff kaum mehr möglich – leider bestimmt die Politik mit einer Verromantisierung der alpinen Baukultur heute vermehrt das Aussehen der Häuser, was zu einem Einheitsbrei führt.

Wie erleben Sie Ihre Rolle als Frau in einer Branche, die noch immer stark männlich geprägt ist – gerade auf der Baustelle oder in der Planung?
Jeder muss sich seinen Platz erarbeiten, ob Mann oder Frau, und ich habe es nie als Nachteil empfunden, als Frau in einem männerdominierten Beruf und Umfeld zu arbeiten. Im Gegenteil – oft komme ich als Frau einfacher zum Ziel. Trotzdem musste ich meine Fachkompetenz vor allem im technischen Bereich beweisen – denn das Vorurteil, dass Frauen und Technik nicht zusammenpassen, ist nach wie vor verbreitet. Mein Vater war ein sehr weltoffener und moderner Mensch und hat uns drei Kinder absolut gleichberechtigt erzogen – für mich eine Selbstverständlichkeit, die in der Welt dann doch nicht so funktionierte. Aber «man» kann ein riesiges Thema daraus machen oder einfach seinen Weg gehen – ich habe Letzteres gewählt. Emanzipiert ja, Emanze nein.

Ihr Team besteht heute fast ausschliesslich aus Frauen. War das ein bewusster Entscheid – oder hat sich diese Teamstruktur einfach ergeben?
Das war und ist kein bewusster Entscheid, und es hatte sich eine Zeit lang so ergeben. Heute sind wiederum zwei Männer in unserem Team. Emanzipiert heisst für mich, dass man niemanden ausschliesst und weltoffen lebt. Ich wähle mein Team nach Sympathie und Kompetenz – und zwar vor allem menschlich und in zweiter Linie fachlich – aus. Trotzdem bin ich von unserem Slogan überzeugt, dass Frauen anders bauen, Männer auch.

Sie sagen: «Frauen bauen anders, Männer auch.» Was bedeutet das für Sie konkret – und wie zeigt sich das in Ihrer Arbeit?
Für mich beinhaltet gute Architektur Schönheit, Funktionalität und eine technisch einwandfreie Umsetzung. Ich bin als Frau an allen Facetten des Bauens interessiert, aber vor allem muss die Funktionalität für die Bewohner bzw. Benutzer gegeben sein. Wir besprechen die Räume, Abläufe, Küche und Nasszellen im Detail – es ist kein Zufallsprodukt, sondern klar strukturiert und durchdacht. In der Funktionalität denken Frauen oft anders als Männer – Klischee hin oder her. In der Materialisierung und Farbgebung ist die Architektur von Frauen oft klar ablesbar – ich kreiere nie einen kalten Chromstahl-Glaspalast. Es würde meinem Wesen und Empfinden nicht entsprechen.

Warum werden die grossen Architekturbüros in Graubünden von Männern und nicht von Frauen geführt? Arbeitet eine Architektin lieber in einem kleineren Büro?
Es ist nach wie vor schwierig, als Frau Beruf und Familie unter einen Hut zu bekommen – oft ist es ein Entweder-oder. Männer werden selten oder nie bei einem Vorstellungsgespräch nach ihrer Familienplanung gefragt – bei Frauen ist dies Alltag. Ich habe mein Büro die letzten 20 Jahre als alleinerziehende Frau und Mama geführt – sehr intensiv, teilweise entbehrungsreich, oft auch kritisiert, aber für mich absolut befriedigend, und meine Tochter ist sowieso das allerbeste «Projekt». Es fehlt den Frauen oft an Mut, Möglichkeiten und Vorbildern, um selber ein Büro zu führen. Uns Frauen fehlt oft das Selbstvertrauen, dass wir das genauso gut können. Ich denke, dass sich Frauen in einem kleinen Team oft besser verstanden und aufgehoben fühlen und sie somit keine Hahnenkämpfe oder Hierarchiegerangel mitmachen müssen.

Die Jugendherberge in Scuol zählt zu Ihren bekanntesten Projekten. Welche gestalterischen oder konzeptionellen Entscheidungen haben Sie dort besonders beschäftigt?
Die Jugendherberge war ein Wettbewerb mit klaren Vorgaben: optimale Nutzung, minimale Kosten, energetische Optimierung. Wir haben dieses Projekt damals mit zwei anderen Architekturbüros erarbeitet, wobei das Konzept von Anfang an mitentscheidend am Erfolg war: ein raumsparendes Projekt, ein kubischer Würfel mit klaren, einfachen, funktionellen Zuteilungen – Untergeschoss mit Keller und technischen Räumen, Erdgeschoss öffentlich mit Rezeption/Empfang, Küche, Ess- und Aufenthaltsraum und die drei Obergeschosse mit den vier verschiedenen Zimmerkategorien. Aussicht in alle vier Himmelsrichtungen, keine Balkone, ein Kern für die Erschliessung mit kurzen Wegen. Das Ganze haben wir im Grundriss dann leicht aufgebrochen und mit Winkeln aufgelockert. Die trichterförmigen Fenster sind eine Hommage an das Engadiner Fenster und in der Funktionalität auch genauso angedacht: kleiner Ausschnitt mit maximalem Lichteinfall durch die schrägen Leibungen. Das Haus wirkt archaisch, minimalistisch – genauso sollte es sein und auch dort stehen. Ich denke, dass uns dies ganz gut gelungen ist.

Sie erwähnten einmal, dass Sie beim Abschluss eines Projekts manchmal auch Trauer empfinden. Warum ist das so – und wie gehen Sie damit um?
Ich begleite meine Projekte vom ersten Gespräch, von der ersten Idee bis zur letzten Schraube – wenn es geht, richten wir die Häuser fixfertig ein. Die Reise ist sehr intensiv, emotional, berührend und aufwendig. Dieses «Baby» dann loszulassen, ist nicht immer einfach. Wenn ich am Schluss eines Projekts am liebsten selber einziehen würde, meine Kundschaft absolut begeistert ist und alle Beteiligten mit einem Lächeln von der Baustelle gehen, haben wir alles richtig gemacht.

Sie besitzen ein selbst umgebautes Haus in S-charl – ohne Handyempfang, ein Rückzugsort. Welche Bedeutung hat dieser Ort für Sie?
S-charl ist Heimat, mein Herzensort. Wir hatten hier ein kleines Haus und haben jedes Wochenende, alle Ferien in S-charl verbracht – zusammen mit vielen anderen Kindern der anderen Häuser. Eine unbeschwerte, phantastische Kindheit. S-charl ist aber auch ein Kraftort – man liebt es einfach. Ohne Handyempfang, WLAN oder Fernseher kann ich hier abschalten – Detox pur. Und ich kenne die Umgebung und die starke Natur durch die vielen Wanderungen und vor allem als Begleitung meines Vaters auf der Jagd sehr gut.


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