Pionierleistungen und standardisierte Elemente

Die Ingenieurbaukunst in Graubünden verbindet technisches Know-how mit alpiner Sensibilität. In einer Region, die von Bergen, Tälern und ­Gewässern geprägt ist, müssen Infrastrukturen wie Brücken, Tunnel, Lawinenverbauungen und Wasserkraftanlagen nicht nur funktional und sicher, sondern auch landschaftsverträglich gestaltet sein.

Die Ingenieurbaukunst in Graubünden spielt sich zwischen zwei Polen ab. Wir finden einerseits Pionierleistungen wie der Langwieser Viadukt oder den San-Bernardino-Tunnel. Andererseits standardisierte Elemente wie die steinernen Viadukte der Albulabahn, die in ihrer Gesamtheit ein Werk der Ingenieurbaukunst bilden. So sind die Bahnlinien des Stammnetzes der Rhätischen Bahn aus Einzelteilen zusammengesetzt, von denen die meisten für sich allein unspektakulär sind, durch ihre Wiederholung aber eine ästhetische Kraft entfalten. Dazu gehören etwa die dreibogigen Unterführungen, von denen man zwischen Bergün und Preda ein Dutzend praktisch gleiche Ausführungen findet, sowie die Tunnelportale und die Stützmauern, alle vereint unter dem Motto «Ehre dem Stein» des Ingenieurs Robert Moser (1838 bis 1918). Ähnliche Bestrebungen, durch Wiederholung gleicher Teile eine Rationalität in Planung und Bauablauf zu schaffen, finden wir in den Ausbauten der Passstrassen, die ab den späten Zwanzigerjahren nach der Zulassung des Automobils in Graubünden in Angriff genommen wurden. Heute zeugen die Stützmauern der Julier- und der Oberalpstrasse vom damaligen Willen zu Bauwerken von hoher technischer und gestalterischer Qualität. Vor diesem mächtigen Ostinato repetitiver Bauwerke heben sich die herausragenden Werke umso stärker ab. An der Nationalstrasse A13 oberhalb Mesocco präsentieren sich eindrücklich die parallel, aber in gegenläufiger Neigung verlaufenden Brücken Nanin und Cascella von Ingenieur Christian Menn (1927 bis 2018). In diesen Bogenbrücken realisierte Menn ein eigenes Konstruktionsprinzip, in dem er die versteiften Stabbogen seines Vorläufers Robert Maillart (1872 bis 1940) weiterentwickelte: Bogen und vorgespannter Fahrbahnträger versteifen sich gegenseitig, woraus sich schlanke Bauteile ergeben.

Anonyme Wettbewerbe
Graubündens Verkehrsnetz ist gebaut, heutige Bauaufgaben konzentrieren sich darum auf lokale Verbesserungen bestehender Anlagen und Ortsumfahrungen. Die Instandsetzung von Kunstbauten ist eine immer wichtiger werdende Aufgabe. Hier hat die Rhätische Bahn mit ihrer «Normalbauweise» für die Instandsetzung von Brücken und Tunneln schweizweit Massstäbe gesetzt, wie heutige technische Anforderungen sich mit einem hohen Denkmalwert vereinbaren lassen. Bauten wie der Landwasserviadukt und zahlreiche kleinere Viadukte, wie auch ein grosser Teil der Tunnels mussten und müssen verbreitert und abgedichtet werden, um den Anforderungen des heutigen Bahnbetriebs gerecht zu werden.

Ein wichtiges Planungsinstrument für Ingenieurbaukunst ist der Projektwettbewerb. Anonyme Eingaben von meist interdisziplinären Gruppierungen werden von einer unabhängigen Jury bewertet, das Siegerprojekt muss sich durch hohe technische wie ästhetische Qualität auszeichnen. Gute Resultate aus Wettbewerben der neueren Zeit sind die zweite Hinterrheinbrücke bei Reichenau der Rhätischen Bahn oder die neuen Infrastrukturbauten zwischen Promontogno und Bondo, die als Folge des Bergsturzes des Pizzo Cengalo trotz ihren mächtigen Ausmassen die wertvollen Ortsbilder und die umgebende Landschaft zu bereichern vermögen.

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